oder: Wer bist du denn eigentlich?
Am Samstag hatte ich kinderfrei. Es stand das Klassen - bzw. Jahrgangstreffen 10 Jahre nach dem Abitur an. Und es ist doch erstaunlich, was man sich im Vorfeld für Gedanken macht. Ich war nie eine aus der Masse herausstechende Schülerin, ich hatte nicht viel Konakt zu den meisten von den Mitschülern, ich war nie sonderlich vorlaut oder auffällig. Ich hatte kein besonderes Amt im Jahrgang, war nicht an den Organisationen für die Abiturfeierlichkeiten beteiligt, war in keinen Skandal verwickelt, gehörte zu keiner der coolen Cliquen. Kurz: Würde man sich überhaupt an mich erinnern?
Mit Bedacht wurde im Vorfeld die Klamotte ausgewählt, Haare gemacht und das Gesamtpaket verschönert. Man muss ja was hermachen. Und was hatte ich schon Großartiges geleistet die letzten 10 Jahre nach dem Abitur? Ich habe geheiratet und zwei Kinder bekommen, meine Ausbildung angefangen, aber noch immer nicht beendet. Nichts weltbewegendes also.
Und dann ging es los. Wir hatten uns alle lieb, haben uns in die Arme genommen und uns gefreut, Leute zu sehen, mit denen wir zuvor nie ein Wort gewechselt hatten. Es war scheinheilig. Schlicht und einfach scheinheilig - die ersten Minuten. Eine ehemalige Mitschülerin sagte: "Ich freu mich so, euch alle wiederzusehen. Ich kenne noch alle Namen. Und ich habe ein so fantastisches Namens- und Gesichtsgedächtnis." Und dann sprach sie eine andere Mitschülerin mit dem falschen Namen an. Herrlich!
Schließlich ging es ans Eingemachte. Was machte man beruflich? Verheiratet? Kinder? Wohnung oder Eigenheim? Wer war hier in unserem ehemaligen Kaff geblieben? Wer war in die weite Welt hinausgereist? Gar ins Ausland? Ich kann sagen, ich belege Platz 1 was die Familienplanung angeht. Ich war die erste von knapp 90 ehemaligen Mitschülern, die geheiratet und Kinder bekommen hat. Und ich bin die erste mit bereits zwei Kindern. Ein Großteil der anderen zieht aber so langsam nach.
Enttäuschungen gab es an diesem Abend auch. Ich hatte mich riesig darauf gefreut, meine ehemals beste Freundin wiederzutreffen. Wir hatten uns vor 5 Jahren aus den Augen verloren. Irgendwie. Einfach so. Und nun saß ich ihr also gegenüber, und das erste, was sie sagte, war: "Du hast noch immer dieselbe Frisur!" Danke. Dann kam gleich: "Ich will hier nicht über privates sprechen und über berufliches schon gar nicht!" Okay, über was denn dann? Und sie setzte noch einen drauf: "Ich treffe ja Frau C. häufiger mal an Bahnhof, da weiß ich ja schon, was bei dir so los ist!" Ich ließ es dabei und sagte ihr noch, dass ich mit Frau C. auch schon ewig nicht gesprochen hätte. Das Grobe an Neuigkeiten könnte sie wissen, aber scheinbar war sie an weiteren Details nicht interessiert. Wir wendeten uns anderen Ehemaligen zu.
Die Gelbe Schleife kannte übrigens niemand. Ein Mitschüler, Politiker, sprach mich an, was gelb bedeutete, Rot sei ja die für Aids. Aha. Ich erklärte es ihm, und er fragte: "Wie kommt man darauf, sich so eine Schleife als Kette um den Hals zu hängen?" Man sei selbst betroffen, antwortete ich diplomatisch. Die Afghanistan-Geschichte ist nicht nur weit weg in Afghanistan, sie ist unter uns. Jeder Soldat hat zuhause auch eine Familie, die auf ihn wartet. Das sollte nicht vergessen werden. Darauf wusste er nichts zu erwidern. So!
Es war interessant zu sehen, wie wenig sich doch verändert hatte im Laufe der letzten 10 Jahre. Es standen noch immer dieselben Cliquen zusammen, dieselben Leute hielten sich für etwas besseres, und ich war froh, dass ich aus dem Thema Schulzeit entwachsen bin. Ich konnte nach Hause gehen und auf die nächste Fleischbeschau in 15 Jahren warten. Wenn ich denn hingehe ...